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Wäre es so gewesen?

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Leicht versetzt, über- und nebeneinander an einer Wand hängend erinnern die Porträts in der Fotoinstallation „Sander remixed“ von Katharina Gruzei in ihren unterschiedlich großen kreisförmigen, ovalen und rechteckigen goldenen, silbernen, schwarzen, weißen und braunen Rahmen von weitem an ein ornamentales Gebilde. Nähert man sich, so wird ersichtlich, dass das durch die Anordnung der Bilder erzeugte Muster aber nicht wie ein klassisches Ornament dekorative, sondern narrative Funktion hat. Auf den ersten Blick fällt auf, dass alle in der Installation gezeigten Fotos etwas Historisches an sich haben. Die meisten Aufnahmen dürften aus dem Zeitraum von 1870 bis 1950 stammen. Entsprechend der westlichen Lesegewohnheit von links nach rechts laden die Bilder zum Abschreiten und Betrachten ein.

Die Fotografien hat Gruzei auf Flohmärkten in Österreich, Deutschland, den USA und der Türkei gefunden. Darunter hat sie Reproduktionen von Fotografien von August Sander wie auch originale Sanderfotografien aus der Sammlung der Oberösterreichischen Landesgalerie gemischt. Berühmte und anonyme Fotografien stehen damit nebeneinander.

 

August Sander, der unter anderem für sein Werk „Menschen des 20.Jahrhunderts“ bekannt ist, arbeitete von 1901 bis 1909 in Linz in einem Portraitstudio. In seinem Buch „Die Menschen des 20. Jahrhunderts“ veröffentlichte er neben künstlerischen Fotografien auch Auftragsportraits. Die künstlerische Arbeitsweise des Archivierens und Neuzusammenstellens populärer und künstlerischer Fotos und die Suche nach einer Typologie bestimmter Menschengruppen war damals eine verbreitete Praxis. In der Kombination anonymer Fundstücke, die mit Sanders Aufnahmetechnik und -stil verwechselt werden könnten, fragt die Installation nach dem Spezifischen Sanders. Darüber hinaus wird thematisiert, was das Anonyme vom Berühmten unterscheidet und wie solche Zuschreibungen überhaupt zustande kommen.

 

In Sanders Versuch, eine Typologie des Menschen zu schaffen, ist eine koloniale Geste enthalten, die erst durch postkoloniale Theorien hinterfragt wurde. Die abgelichteten Frauen, Männer und Kinder aus Gruzeis Installation stammen aus verschiedenen Kulturkreisen, dennoch sind gewisse Gemeinsamkeiten erkennbar. Gruzeis Form des Archivierens und Neuzusammenstellens von Fotografien stellt Sanders Versuch der Schaffung einer Typologie damit auf den Kopf. Gesucht wird nicht nach der „typischen Wienerin“, nach „der deutschen Mutter“ oder ähnlichem, wie es in Sanders Repräsentationslexikon „Menschen des 20. Jahrhunderts“ der Fall war, sondern nach der Kontingenz wie auch dem Verbindenden zwischen verschiedenen Menschen und Kulturen. Es handelt sich um private Aufnahmen, die fürs Familienalbum angefertigt wurden. Irritierend sind die ähnlichen Posen: Die Blickrichtung, oder auch die Haltung von Händen, Armen und Oberkörpern. Auch ein immer wiederkehrendes Motiv fällt auf: Die Frau mit Buch. Die Frau mit Buch liest nicht. Im Zentrum der Aufnahme liegt nicht ein konzentriert denkender Blick. Der Fokus liegt auf den schönen Händen der Frau. Bei dem Buch handelt es sich um ein dekoratives Accessoire. Die Männer, die auf den Porträts mit Buch wiedergegeben sind, halten ihre Lektüre weniger ‚zeigend‘. Das Buch wird als stärker zu ihnen gehörend präsentiert und erscheint damit nicht als Allegorie für das Lesen, sondern für den eigenen Intellekt. Auf einigen der Fotografien erscheinen diese geschlechtsspezifischen Inszenierungen aber auch durchlässig oder gebrochen.

 

Die Installation führt den allegorischen Einsatz von Weiblichkeitsbildern vor Augen, der in der Kunst- und Filmwissenschaft aus verschiedenen theoretischen Richtungen auf seine gesellschaftlichen, politischen und künstlerischen Bedeutungen befragt wurde. Teresa de Lauretis hat unterschieden in „woman“ und „women“, um kenntlich zu machen, dass die Darstellung von Frauen in der visuellen Kultur häufig nichts mit dem realen Alltag oder der Situation von Frauen zu tun hatte, sondern als Allegorie fungierte. Mit „woman“ bezeichnet Lauretis den allegorischen Einsatz von Weiblichkeit, mit „women“ die reale Situation oder Existenz von Frauen.(1) In ihrer allegorischen Funktion erscheint die Frau wie ein ‚leeres Blatt’, eine Art Leerstelle. Sie ist selbst nicht repräsentiert, sondern verkörpert die Möglichkeit, andere zu repräsentieren.

 

Da Frauen während des 19. und zum Teil noch während des 20. Jahrhunderts weitgehend aus dem gesellschaftlich-politischen Leben ausgeschlossen waren, konnten sie als Allegorien für die Werte bürgerlicher Kultur dienen. Weibliche Figuren verkörperten in der visuellen Kultur Freiheit, Politik, Wahrheit oder auch die schönen Künste, wie die Dichtkunst.

Die von Gruzei arrangierten Fotos zeigen, dass die Allegorisierung des Weiblichen keineswegs nur im öffentlichen Raum, sondern auch im Privaten vorkam. Sie veranschaulichen die Neuordnung von Geschlechterstereotypen, wie sie Soziologinnen und Historikerinnen wie Karin Hausen oder Claudia Honegger für das 19. Jahrhundert erforscht haben.(2) Mit dem Entstehen der bürgerlichen Kultur und seiner Werte wurden Frauen zunehmend auf den häuslichen Bereich festgelegt. Eigenschaften wie Fürsorge oder passive Empfänglichkeit galten nun vermehrt als typisch weibliche Merkmale, Eigenschaften wie Aktivität oder Rationalität als typisch männliche. Die Installation verdeutlicht, wie sich solche gesellschaftlichen Zuschreibungen auch im privaten Leben und seiner Repräsentation niederschlugen. Bei den männlichen Porträts etwa fällt die Bekleidung mit Anzug und Krawatte auf, selbst im privaten Raum wirken die dargestellten Männer wie mitten im Berufsleben stehend, während die Frauen, beispielsweise mit Blumenkörben und dekorativen Accessoires, das Private verkörpern.

 

In der Frühphase der Fotografie wurde dem neuen künstlerischen Medium oft zugeschrieben Wirklichkeit authentisch wiederspiegeln zu können. Heute ist diese Annahme dem Wissen um die Konstruiertheit des fotografierten Abbildes wie auch der von ihm festgehaltenen vermeintlich authentischen Identität gewichen. Aus heutiger Perspektive wird die gesellschaftliche Konstruiertheit von Repräsentation interessanterweise gerade an den frühen Fotografien deutlich. Wegen des langwierigen Aufnahmeverfahrens war eine Kopfstütze erforderlich, damit die Bilder nicht verwackelten, wenn die Porträtierten unruhig wurden. Durch das erforderliche lange, bewegungslose Stillsitzen wirken die Posen auf den Fotografien zum Teil wie ‚eingefroren‘. Auf einigen der von Gruzei arrangierten Fotografien ist die Kopfstütze sichtbar. Damit wird Präzision, die oft auch heute noch als natürliche Eigenschaft von Fotografien gilt, als Ergebnis aufwändiger Bemühungen erkennbar. Es wird deutlich, dass die Posen nicht authentisch sind, sondern inszeniert und damit zwar langlebig aber auch veränderbar.

 

Inmitten der weiblichen Porträts erscheint eine junge Frau mit Doktorhut, wie er in den 1920er Jahren, der Zeit aus dem die Fotografie stammt, noch für frisch Promovierte üblich war. Zu jener Zeit erfuhren nur wenige Frauen diese akademische Ehrung. Stolz blickt die junge Frau in die Kamera. Im Sinne von Lauretis Unterscheidung in „woman“ und „women“ handelt es sich bei dieser Darstellung nicht um eine Allegorie, sondern um ein Bild, das die Realität dieser Frau wiedergibt. Die Exklusivität macht Gruzei dadurch deutlich, dass sie die junge Doktorin zur Linken und zur Rechten von einer weiblichen Figur mit Buch und einer weiblichen Figur mit modischem Hut, die eine ähnliche Körperhaltung aufweisen, bei deren Inszenierung aber nicht die intellektuellen Fähigkeiten, sondern zeitgenössische Weiblichkeitsbilder im Zentrum stehen, quasi rahmt.

 

Das Posenhafte der in der Installation gezeigten Fotografien verdeutlicht gut den performativen Charakter der Einübung vermeintlich natürlicher, weiblicher und männlicher Eigenschaften, wie er im kunsttheoretischen Diskurs aktuell beispielsweise unter Bezug auf Theorien von Judith Butler herausgearbeitet wurde. Judith Butler hat gezeigt, wie Geschlechterstereotype über diskursive Zuschreibungen angenommen aber auch verändert werden können.(3) Die Fotoinstallation von Katharina Gruzei zeigt demgegenüber den von der aktuellen Diskurstheorie vernachlässigten Bereich des Visuellen. Vermeintlich natürliche weibliche und männliche Eigenschaften werden nicht nur als diskursiv erzeugt, sondern auch als im privaten und kollektiven Imaginären gespeicherte Formen des Repräsentierens ausgewiesen. Dabei wird mit dem dokumentarischen Charakter der Fotografie gearbeitet, um ihn gleichzeitig zu dekonstruieren.

 

Roland Barthes hat erklärt, dass „jedes Photo in gewisser Hinsicht die zweite Natur seines Referenten ist“ (4). Anders als bei der Malerei oder einem Diskurs lasse sich bei der Fotografie „nicht leugnen, daß die Sache dagewesen ist. Hier gibt es eine Verbindung aus zweierlei: aus Realität und Vergangenheit.“ Insofern entstünde beim Betrachten von Fotografien das Gefühl „Es-ist-so-gewesen“. Damit ist gemeint, dass das, was man sieht, sich auch dort befand, „an dem Ort, der zwischen der Unendlichkeit und dem wahrnehmenden Subjekt (operator oder spectator) liegt; es ist dagewesen und gleichwohl auf der Stelle abgesondert worden; es war ganz und gar, unwiderlegbar gegenwärtig und war doch bereits abgeschieden.“(5) Die Faszination des „Es-ist-so-gewesen“, die Barthes beim Betrachten historischer Aufnahmen beschreibt, mag für die heutigen Betrachter/innen noch zutreffen, gleichzeitig hat die rasante Entwicklung, die die Medien in den letzten Jahrzehnten erfahren haben, wie auch deren häufig korrupter Einsatz innerhalb von Gesellschaft und Politik, die Manipulierbarkeit fotografischer Verfahren deutlich gemacht.

 

Gruzei spielt auf subtile Weise mit der Faszination des „Es-ist-so-gewesen“ der Fotografie und dem gleichzeitigen Wissen um deren mögliche Manipulierbarkeit. Zwischen die historischen Fotografien hat Katharina Gruzei Selbstporträts eingefügt. Bei den Fotos handelt es sich aber nicht um heute übliche Papierabzüge, sondern um sogenannte Ferrotypien, die zwischen 1850 und 1930 verwendet wurden. Ferrotypien liegt ein fotografisches Direktpositivverfahren zugrunde. Sie basieren auf einer knapp belichteten und entwickelten Kollodiumschicht, die sich auf einem lackierten Eisenblech befindet. Mit dem Rückgriff auf ein heute nicht mehr übliches technisches Verfahren fügt sich die Künstlerin in die historischen Aufnahmen ein und geht zeitlich sogar noch hinter diese zurück. Sie weist sich selbst als den geistigen Ursprung der Installation aus. Die meisten der in der Installation gezeigten Bilder sind bereits auf Fotopapier entstanden und damit späteren Datums als Ferrotypien. Die Künstlerin verweist nicht nur darauf ‚wie es gewesen ist‘, sondern auch darauf ‚wie es gewesen sein könnte‘. Sie zeigt sich im bürgerlichen Interieur. Vorhang, Tapete und Möbel scheinen dem ausgehenden 19. Jahrhundert entlehnt. Bei genauem Hinsehen ist es nicht nur die zeitgenössische Kleidung, die verdeutlicht, dass es sich bei der vermeintlich historischen Aufnahme um ein fake handelt. Auf einer der Ferrotypien präsentiert sich die Künstlerin mit ihrem Arbeitsgerät, der Kamera. Die Kamera kommt auf einem Tischchen neben einem Blumentopf zum Vorschein. Zur Zeit der Entstehung von Ferrotypien wären Blumen in einem weiblichen Porträt ein Symbol für Sinnlichkeit, Häuslichkeit oder auch Natürlichkeit gewesen. An deren Stelle tritt in Gruzeis Selbstporträt in Gestalt des Arbeitsgeräts ein Symbol für Professionalität und Kreativität. Das alte Symbol wird ironisiert und persifliert.

 

Aus der Zeit, in der Ferrotypien überliefert sind, sind keine Aufnahmen von Künstlerinnen mit Arbeitsgerät bekannt. Dies ist ein Aspekt, der die Geringschätzung weiblicher Kreativität zeigt, wie sie zur damaligen Zeit üblich war. Das Barthsche „Es-ist-so-gewesen“ mutiert in Gruzeis Selbstporträt mit Fotokamera in ein „So hätte es gewesen sein können“ oder „So wäre es gewesen“ oder vielleicht auch in eine Frage wie „Was bedeutet es, dass es nicht so gewesen ist“ oder „Wäre es so gewesen?“

 

Vielleicht gab es Inszenierungen von Fotografinnen mit Arbeitsgerät und sie sind lediglich in Vergessenheit geraten. Vielleicht gab es sie aber auch tatsächlich nicht. Was sagt es über eine Gesellschaft aus, wenn es sie nicht gibt? Die Installation von Katharina Gruzei wirkt wie eine Erinnerungsspur oder Assoziationskette. Es ist eine narrative Form des Re-Präsentierens, die zum Nachdenken und Überdenken gesellschaftlicher Strukturen und deren gewaltförmiger Repräsentation anregt. Private Archive sind Teil eines kollektiven Imaginären. Die Einzelnen auf den hier gezeigten Fotografien präsentieren sich mit Posen, die auch heute noch verständlich sind, da sie langlebige gesellschaftliche Konventionen enthalten. Dennoch ist es eine Art von Fotografie, die deutlich für Vergangenes steht. Der Arrangiertheit der Posen, die damals unter anderem aus der langen Belichtungszeit herrührte, ist heute die Schnelligkeit und Flüchtigkeit des Schnappschusses, beispielsweise mit dem Handy, gewichen. Welche neuen Posen und Motive haben die alten ersetzt?

Das Faszinierende der Installation von Gruzei besteht darin, dass es eine Arbeit ist, die im Kontext zeitgenössischer Theorieflexion über die Konstruktion von Identitäten steht, aber eine andere, eine visuelle Dimension des Fragens entwirft. Es wird deutlich, dass die künstlerische Arbeit in der Lage ist Assoziationen aus einem Bildgedächtnis hervorzurufen, die eine andere Erzählung als die der diskursiven Narration eröffnet oder diese zumindest maßgeblich erweitert.

 

(1) Teresa de Lauretis: Alice doesn’t. Feminism, Semiotics, Cinema. Bloomington 1984.

(2) Karin Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363-393. Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Dis Wissenschaften vom Menschen und das Weib, München 1996.

(3) Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Ff/M 1991.

(4) Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Ff/M 1989, S. 86.

(5) Ebd., S. 86 und 87.

 

 

Elke Frietsch

 

 

 

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